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Einkauf in der Fertigungsindustrie: Wie KI komplexe Stücklisten und mehrstufige Lieferantennetze meistert

Von Fabian Heinrich
July 31, 2025
Einkauf in der Fertigungsindustrie: Wie KI komplexe Stücklisten und mehrstufige Lieferantennetze meistert

Komplexität im Einkauf der Fertigungsindustrie verstehen

Das unsichtbare Netzwerk: Tier-2- und Tier-3-Lieferanten

Die geografische Streuung moderner Lieferketten ist enorm. Sie erstreckt sich über mehrere Kontinente hinweg mit einer Vielzahl involvierter Akteure pro Stufe.

Die Karte zeigt typische Lieferkettenstrukturen in der Fertigungsindustrie – von Tier-3-Zulieferern bis zur Endmontage. Besonders auffällig: Die enorme geografische Streuung über mehrere Kontinente hinweg und die Vielzahl involvierter Akteure pro Stufe.
Abb.1 Die Karte zeigt typische Lieferkettenstrukturen in der Fertigungsindustrie – von Tier-3-Zulieferern bis zur Endmontage. Besonders auffällig: Die enorme geografische Streuung über mehrere Kontinente hinweg und die Vielzahl involvierter Akteure pro Stufe.

Während Tier-1-Lieferanten oft bekannt und gut vertraglich eingebunden sind, bleibt die zweite und dritte Zulieferstufe (Tier-2, Tier-3) oft unklar. Informationen über Lieferwege, Risiken oder kritische Abhängigkeiten gehen hier oft verloren, was sich im Krisenfall fatal auswirken kann.

Selbst kleinere Fehler in der Rückverfolgbarkeit (Traceability) führen schnell zu:

  • Lieferverzögerungen
  • Qualitätsproblemen
  • Produktionsstillstand

Die Folge: Lieferausfälle oder Produktionsstopps, obwohl die Tier-1-Lieferanten formal noch lieferfähig sind.

Transparenz endet nicht bei Tier 1. Wer seine Lieferkette resilient aufstellen will, muss auch die zweite und dritte Reihe im Blick haben und sollte auf ein strategisches Lieferantenmanagement setzten.

Genau hier bietet Künstliche Intelligenz enormes Potenzial.

KI kann kritische Daten aus verschiedenen Quellen verbinden. Sie zeigt wichtige Verbindungen auf und hilft dem Einkauf, die Komplexität zu meistern.

Besonders relevante Branchen

  • Automobilindustrie
  • Maschinenbau
  • Medizintechnik
  • Elektronik

Das sind Branchen, in denen Produktionssicherheit, Variantenvielfalt und regulatorische Anforderungen besonders hoch sind.

Warum Stücklisten in der Industrie oft Hunderte Positionen umfassen

In der Fertigungsindustrie ist der Einkauf keine isolierte Funktion mehr. Er ist eng mit der Produktentwicklung, der Produktion und der Lieferkettenstrategie verbunden.

Besonders klar wird das bei der Verwaltung von Stücklisten (Bill of Materials, kurz BOM). Diese Listen enthalten oft Hunderte bis Tausende Einzelteile:

  • Standardteile
  • Spezialkomponenten
  • Materialien, die zertifiziert werden müssen

Jede Position kann verknüpft sein mit:

  • Eigenen Materialcodes
  • Technischen Zeichnungen
  • Zertifizierungen
  • Eigenen Lieferanten

Die BOM-Komplexitäts-Pyramide im Einkauf: Vom einzelnen Endprodukt über Baugruppen bis zu hunderten Einzelteilen – jede Ebene erhöht die Komplexität exponentiell und stellt hohe Anforderungen an das Lieferantenmanagement.
Abb.2 Die BOM-Komplexitäts-Pyramide im Einkauf: Vom einzelnen Endprodukt über Baugruppen bis zu hunderten Einzelteilen – jede Ebene erhöht die Komplexität exponentiell und stellt hohe Anforderungen an das Lieferantenmanagement.

Das führt nicht nur zu viel Verwaltungsaufwand, sondern auch zu einem hohen Risiko - besonders, wenn Änderungen oder Ausfälle einzelne Teile betreffen.

Dadurch entstehen folgende Probleme:

  1. Langsame Prozesse bei komplexen BOMs:
  • Manuelle Ausschreibungen für jede einzelne Komponente verlangsamen Time-to-Procure.
  • Aufwand für Vergleich & Auswahl ist bei Hunderten Bauteilen extrem hoch.
  1. Zu wenig Wettbewerb pro Position:
  • BOM-Teile gehen oft an bekannte Lieferanten ohne echten Preisvergleich.
  • Einsparpotenziale bleiben ungenutzt, weil keine breite Ausschreibung erfolgt.
  1. Wertvolle Zeit statt Qualitätsarbeit:
  • Einkäufer verbringen zu viel Zeit mit operativer Abwicklung (Matching etc.).
  • Weniger Raum für strategische Tätigkeiten wie Lieferantenentwicklung oder Qualitätssicherung.

Die Folgen mangelnder Transparenz in BOM-Strukturen

In Stücklisten (Bills of Materials) steckt das Rückgrat jeder industriellen Produktion. Doch wenn Transparenz in diesen Strukturen fehlt, drohen erhebliche Risiken, insbesondere bei der Rückverfolgbarkeit (Traceability).

Wenn Time-to-Procure zum Wettbewerbsnachteil wird

Manuelle Ausschreibungsprozesse für komplexe BOMs mit Hunderten von Komponenten führen zu dramatisch verlängerten Beschaffungszeiten. Während Einkäufer Position für Position einzeln ausschreiben und mühsam Angebote vergleichen, tickt die Uhr der Marktdynamik unbarmherzig weiter. Die Folgen sind messbar:

  • Verzögerte Markteinführung neuer Produkte, weil die Beschaffung zum Engpass wird. Wettbewerber sind schneller am Markt
  • Produktionsstopps entstehen, wenn kritische Komponenten nicht rechtzeitig verfügbar sind, obwohl der Bedarf längst bekannt war
  • Opportunity Costs durch entgangene Geschäfte, während die Konkurrenz bereits liefert

Verschenktes Einsparpotenzial durch mangelnden Wettbewerb

Wenn BOM-Positionen routinemäßig an bekannte Lieferanten vergeben werden, ohne echten Preisvergleich zu organisieren, bleiben erhebliche Einsparpotenziale ungenutzt. Der Grund ist oft simpel: Bei Hunderten von Bauteilen scheint eine breite Marktanalyse zu aufwendig.

  • Preisintransparenz führt zu überhöhten Beschaffungskosten, weil alternative Anbieter gar nicht erst identifiziert werden
  • Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten entstehen schleichend und werden zu strategischen Risiken
  • Verhandlungsmacht bleibt ungenutzt, weil Volumeneffekte nicht erkannt oder gebündelt werden

Strategieverlust durch operative Überlastung

Während Einkäufer ihre Zeit mit manueller Commodity-by-Commodity-Bearbeitung und Angebots-Matching verbringen, fehlt die Kapazität für wertschöpfende strategische Aufgaben. Das Ergebnis: Eine Abteilung, die eigentlich den Grundstein für Wettbewerbsvorteile legen sollte, wird zur reinen Abwicklungseinheit.

  • Lieferantenentwicklung bleibt auf der Strecke, weil die Zeit für operative Tätigkeiten verwendet wird
  • Qualitätssicherung wird vernachlässigt, obwohl sie entscheidend für die Produktqualität ist
  • Risikomanagement findet nicht proaktiv statt, sondern nur reaktiv bei akuten Problemen

Das Ergebnis: Aus einem strategischen Erfolgsfaktor wird ein operativer Kostentreiber -und die Wertschöpfung bleibt weit unter ihrem Potenzial. Diese Herausforderungen erfordern neue Ansätze.

So hilft KI beim BOM- & Lieferantennetzwerk-Management

Die Komplexität globaler Lieferketten und mehrstufiger Stücklistenstrukturen erfordert neue technologische Ansätze. KI bietet dabei drei entscheidende Hebel:

Datenintegration & Automatisierung: Der technologische Hebel

KI verbindet fragmentierte Datenquellen wie ERP-, PLM- oder externe Lieferantendatenbanken. Das reduziert manuelle Dateneingaben, erhöht die Datenqualität und ermöglicht erstmals eine durchgängige Transparenz – bis auf Tier-3-Ebene. So entsteht die Grundlage für fundierte Entscheidungen im gesamten Netzwerk.

Multi-Tier-Visibility durch Graph-Datenbanken & NLP

Graph-Datenbanken machen Lieferantennetze visuell erfassbar, inklusive aller direkten und indirekten Beziehungen. In Kombination mit Natural Language Processing (NLP) können auch unstrukturierte Informationen aus PDFs, E-Mails oder Webseiten ausgewertet werden. Das schafft neue Sichtbarkeit für bislang verborgene Abhängigkeiten.

Predictive Insights statt reaktives Krisenmanagement

KI erkennt Frühindikatoren für drohende Störungen – etwa verspätete Transporte, negative Risikobewertungen oder geopolitische Veränderungen. Mithilfe von Simulationen lassen sich Alternativszenarien durchspielen und konkrete Handlungsempfehlungen generieren, etwa durch das automatische Vorschlagen alternativer Lieferanten.

In 4 Schritten zur KI-gestützten Einkaufsstrategie

Die Einführung von KI im Einkauf beginnt nicht mit Technologie, sondern mit Struktur. Wer KI erfolgreich einsetzen will, sollte mit einer klaren, schrittweisen Vorgehensweise starten:

 In 4 Schritten zur resilienten Lieferkette: Der Weg von der Analyse über Pilotierung und Integration bis zur kontinuierlichen Optimierung komplexer Lieferketten in der Fertigungsindustrie.
Abb.3 In 4 Schritten zur resilienten Lieferkette: Der Weg von der Analyse über Pilotierung und Integration bis zur kontinuierlichen Optimierung komplexer Lieferketten in der Fertigungsindustrie.

Schritt 1: Datenlage & Stücklistenqualität analysieren

Zuerst muss Klarheit herrschen:
Welche Daten liegen überhaupt vor? In welchen Systemen? Wie sind sie strukturiert?

In diesem Schritt werden Datenlücken, Redundanzen und Inkonsistenzen identifiziert Die Grundlage für alles, was folgt. Ohne belastbare Datenbasis bleibt jede KI-Initiative ineffizient.

Schritt 2: Piloten für kritische Baugruppen starten

Nicht alles auf einmal, sondern gezielt dort starten, wo der Hebel am größten ist.
Wählen Sie eine Produktgruppe mit hoher Komplexität oder hohem Risiko und integriere erste KI-Module, z. B. zur Lieferantenbewertung oder Risikofrüherkennung.

So entsteht ein realistischer Use Case mit messbarem Impact.

Schritt 3: Integration in bestehende Systeme

Damit der Pilot skaliert, braucht es Anschlussfähigkeit.
Die Anbindung an ERP-, PLM- oder SCM-Systeme wie Mercanis ist essenziell. Dabei müssen klare Schnittstellen definiert und Zugriffsrechte sauber geregelt werden.

Ziel ist eine reibungslose Systemintegration – kein zusätzlicher Datensilo.

Schritt 4: Kontinuierliche Optimierung & Training

KI lernt nicht von allein, KI braucht Feedback.
Durch regelmäßige Evaluierung der Ergebnisse und gezielte manuelle Rückmeldungen verbessert sich der Algorithmus kontinuierlich.

Parallel kann die Anwendung auf weitere Warengruppen, Werke oder Regionen ausgeweitet werden.

Fazit: KI als Schlüssel zu resilienten Fertigungslieferketten

Künstliche Intelligenz ist kein Allheilmittel, aber ein mächtiges Werkzeug, wenn sie gezielt eingesetzt wird. Sie ersetzt keine fundierte Einkaufsstrategie, aber sie macht ihre Umsetzung in einer zunehmend komplexen Welt erst möglich.

Durch den intelligenten Einsatz von KI können Unternehmen:

  • kritische Abhängigkeiten in Stücklisten und Lieferantennetzen sichtbar machen,
  • Risiken frühzeitig erkennen statt nur zu reagieren,
  • und neue Handlungsspielräume gewinnen – in Echtzeit.

Gerade in volatilen Märkten gilt:
Wer heute in Transparenz und Datenkompetenz investiert, steht morgen nicht nur stabiler da, sondern ist auch klar im Vorteil.

FAQ

Was ist eine Stückliste (BOM) und warum ist sie so komplex?
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Eine Stückliste (Bill of Materials, BOM) ist eine detaillierte Auflistung aller Komponenten, Materialien und Teile, die zur Herstellung eines Produkts benötigt werden. In der Fertigungsindustrie können BOMs Hunderte bis Tausende Positionen umfassen – inklusive technischer Zeichnungen, Zertifizierungen und Lieferanteninformationen. Jede Ebene der Stückliste erhöht die Komplexität exponentiell.

Warum sind Tier-2- und Tier-3-Lieferanten für die Fertigung so wichtig?
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Tier-2- und Tier-3-Lieferanten liefern oft kritische Bauteile oder Rohstoffe, sind aber in vielen Unternehmen nur unzureichend dokumentiert. Im Krisenfall kann mangelnde Transparenz auf diesen Ebenen zu Lieferausfällen, Qualitätsproblemen oder Produktionsstillständen führen.

Wie kann Künstliche Intelligenz (KI) den Einkauf in der Fertigung verbessern?
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KI hilft, unstrukturierte Datenquellen zu verknüpfen, Stücklisten zu analysieren und Lieferantennetzwerke transparent zu machen. Durch Automatisierung, Predictive Analytics und Multi-Tier-Visibility lassen sich Risiken früher erkennen, Beschaffungszeiten verkürzen und Einsparpotenziale realisieren.

Was bedeutet Multi-Tier-Visibility in der Lieferkette?
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Multi-Tier-Visibility bezeichnet die Fähigkeit, alle Ebenen der Lieferkette – von Tier-1 bis Tier-3 – vollständig zu überblicken. Mit KI und Graph-Datenbanken lassen sich auch indirekte Abhängigkeiten sichtbar machen, was essenziell für Resilienz und Risikomanagement ist.

Wie lässt sich KI schrittweise im Einkauf implementieren?
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  • Die Einführung erfolgt idealerweise in vier Phasen:
  • Analyse der Datenlage und Stücklistenqualität
  • Pilotprojekte für kritische Baugruppen
  • Integration in bestehende ERP- und PLM-Systeme

Kontinuierliche Optimierung durch Feedback und Training der KI
Diese schrittweise Vorgehensweise stellt sicher, dass KI-Lösungen skalierbar und praxisnah eingesetzt werden.

Welche Vorteile bietet KI für den industriellen Einkauf?
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  • Schnellere Time-to-Procure durch automatisierte Prozesse
  • Mehr Transparenz über Lieferanten und Abhängigkeiten
  • Früherkennung von Risiken und Engpässen
  • Bessere Verhandlungsposition durch Marktübersicht
  • Entlastung von operativen Aufgaben zugunsten strategischer Tätigkeiten
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Über den Autor
Von Fabian Heinrich
Fabian Heinrich
CEO & Co-Founder of Mercanis

Fabian Heinrich ist CEO und Co-Founder von Mercanis. Zuvor war er Mitgründer des Procurement-Unternehmens Scoutbee und machte es zu einem der weltweit führendenAnbieter im Scouting-Bereich mit Niederlassungen in Europa und den USA und mit Kunden wie Siemens, Audi und Unilever. Nach einem Bachelorabschluss sowie einem Master in Accounting and Finance von der Universität St. Gallen durchlief er außerdemStationen bei Deloitte und Rocket Internet SE.

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