Wie bleibt der Einzelhandelseinkauf resilient in Zeiten von Disruption, Compliance und Nachhaltigkeit?
In dieser Podcast-Folge spricht AWG Mode Einkaufsleiter Fabian Knoth mit Mercanis über die aktuellen Herausforderungen und Entwicklungen im Einzelhandelseinkauf. Erfahren Sie, wie AWG resiliente Lieferketten aufbaut, auf geopolitische Veränderungen reagiert und gleichzeitig höchste ESG- und Compliance-Standards erfüllt.
Fabian Heinrich (00:00)
Willkommen zu einer neuen Folge von Procurement on Plug, dem Podcast von Marcanis. Heute freue ich mich besonders auf Fabian Knoth, den Einkaufsleiter von AWG Mode. Viele kennen sicherlich den Modehändler AWG. Er sorgt dafür, dass die Lieferketten im Hintergrund funktionieren. Und ja, Fabian, herzlich willkommen in unserem Podcast.
Fabian Knoth (00:26)
Fabian, vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr auf das Gespräch heute mit dir zum Thema Lieferkette, und ich bin gespannt, welche spannenden Fragen du für mich hast.
Fabian Heinrich (00:38)
Es ist ja immer spannend, wie man im Einkauf landet. Wie wird man Einkaufsleiter? Vielleicht fangen wir mal damit an – du bist ja inzwischen ein alter Hase, darf ich sagen. Wie hat deine Reise begonnen? War es dein Lebensziel, in den Einkauf zu gehen und Einkaufsleiter zu werden? Erzähl doch ein bisschen.
Fabian Knoth (01:01)
Gerne. Mein Einstieg in die Textilbranche begann nach dem Abitur mit einer klassischen Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann bei Breuninger in Leipzig – eines der Top-Modehäuser in Deutschland. Heute mit Leuchtturmfunktion. Wir hatten dort eine sehr gute Ausbildung: Wie spricht man Kunden an, wie analysiert man Verkaufsflächen? Das hat mir großen Spaß gemacht. Nach zwei Jahren kam ein Abteilungsleiter auf mich zu, der junge Mitarbeiter förderte, und hat mich an die LDT Nagold vermittelt. Dort habe ich das Textilgeschäft in seiner ganzen Tiefe gelernt – von der Rohstoffbeschaffung über die Produktion bis hin zur Fertigung. Ich war auch in Indien und habe mir die Produktionsstätten vor Ort angesehen. Da hatte ich die ersten Berührungspunkte mit Themen wie Arbeitsbedingungen, Kinderarbeit – alles Themen, die wir dort hautnah miterlebt haben und die einen hohen Stellenwert bekommen haben.
Nach dem Studium habe ich mich dann bewusst für den Einkauf entschieden. Ich durfte bei Breuninger ein fünfwöchiges Praktikum machen und bin so zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Nach meinem Studium habe ich dort meine Ausbildung und Weiterbildung zum Einkäufer abgeschlossen. Das war eine sehr spannende und fordernde Zeit. Ich hatte einen guten Mentor, der mich motiviert hat, mich weiterzuentwickeln. Und so bin ich im Einkauf fest verankert geblieben und konnte mir in der Textilbranche nichts anderes mehr vorstellen.
Dann kam die nächste Station: Wie funktioniert eigentlich der Einkauf insgesamt? Wir hatten viele Eigenmarkenpartner in Deutschland, aber was ist mit der anderen Seite – der Lieferkette? Ich war dann dreieinhalb Jahre in einem Handelsunternehmen tätig, mit allem, was dazugehört: von der Produktion über die Entwicklung bis hin zum Vertrieb. Ich habe die Lieferkette in all ihren Facetten kennengelernt.
Fabian Heinrich (04:10)
Das ist wirklich spannend, weil man in der Textilbranche ja oft nur das Verkaufsende sieht. Du musst die Lieferzeiten im Griff haben, und gerade bei Eigenmarken ist der Einkauf ganz anders organisiert als im klassischen Handel.
Fabian Knoth (04:35)
Absolut. Gerade bei AWG – wir gestalten alles selbst: vom Design über die Entwicklung bis hin zur Produktion. Wir wählen die Lieferanten aus, besprechen Garnstärken, wie ein Stoff gewebt oder gestrickt werden soll, welche Farben verwendet werden. Wir sind also sehr nah am Produkt – und das ist das Spannende daran. Einerseits bist du für Daten und Beschaffung verantwortlich, andererseits auch für das Produkt selbst – und damit für die gesamte Wertschöpfungskette.
Fabian Heinrich (05:27)
Sehr spannend. Du bist ja jetzt schon ein paar Jahre in der Lieferkette tätig. Wie hat sich das in den letzten 10–20 Jahren verändert?
Fabian Knoth (05:40)
Ich denke, es ist alles viel komplexer geworden. Die Auswahl der richtigen Partner wird immer entscheidender. Das Thema Partnerschaft und Zusammenarbeit ist heute viel wichtiger als noch vor 10 oder 15 Jahren. Damals konnte man Lieferanten einfach austauschen – heute ist das kaum noch möglich. Es gibt weniger Produktionsstätten im Fernen Osten oder in der Türkei, Griechenland – wo wir auch viel unterwegs sind. Vertrauen und eine enge Bindung sind heute sehr wichtig, sonst bekommst du deine Waren nicht rechtzeitig. Ohne gute Beziehungen funktioniert die Zusammenarbeit heute nicht mehr – das ist essenziell.
Fabian Heinrich (06:24)
Verstehe.
Fabian Knoth (06:41)
Sonst stehst du plötzlich irgendwo in der Produktion und verlierst die Kontrolle, weil die Ware nicht pünktlich bei dir ankommt. Und da arbeite ich mit der Logistik zusammen: Ich brauche heute verbindliche Forecasts, Verträge, feste Zeitpläne. Früher war das einfacher. Heute musst du dir für jeden Container einen Platz sichern, als wärst du der Letzte, der noch seine Ware nach Deutschland bekommen will.
Fabian Heinrich (07:20)
Selbst die Logistik aus Asien oder wo auch immer produziert wird, ist zur Herausforderung geworden, weil du keinen Containerplatz mehr sicher hast.
Fabian Knoth (07:31)
Absolut. Das begann 2020 mit dem ersten Corona-Lockdown. Seitdem hat sich das Thema Transport extrem verschärft. Einen Lieferanten zu finden, der kurzfristig liefern kann, ist das eine – aber den Container zu bekommen, ist das andere. Ohne Planung und Beziehungen kaum noch möglich.
Fabian Heinrich (08:03)
Habt ihr intern darauf reagiert? Neue Strategien entwickelt, z. B. einen Kategorie-Einkäufer für Transport?
Fabian Knoth (08:26)
Was wir haben, ist ein Trackingsystem in Zusammenarbeit mit unserer Logistik. Damit wissen wir, von welchem Hafen aus welche Transportzeiten bestehen. Wir haben intern eine Kostenkalkulation pro Land eingeführt – also LKW, Schiff oder Flugzeug. Mein Team hat so die volle Transparenz: Was kostet Produkt XY in Land A, was in Land B? Welche Zusatzkosten fallen an? Und am Ende: Was kostet mich das Produkt in meinem Lager? So kalkulieren wir jeden Auftrag individuell.
Fabian Heinrich (09:17)
Mhm.
Fabian Knoth (09:25)
Aber so müssen wir heute arbeiten, weil die Kosten sehr schwanken – ob durch Löhne, Nebenkosten oder Rohstoffe. Diese Kosten versuchen wir durch bessere Materialauswahl abzufangen.
Fabian Heinrich (09:58)
Ich glaube, das sind Herausforderungen, die viele Branchen betreffen – aber bei euch mit der Lieferkette Richtung Asien ist das nochmal eine andere Dimension.
Fabian Knoth (10:27)
Was sich in den letzten fünf Jahren stark verändert hat, auch bei AWG, ist das Thema Arbeitsbedingungen und Nachhaltigkeit. Die Frage: Wie nachhaltig ist mein Lieferant?
Fabian Heinrich (10:43)
Und das Thema Transparenz.
Fabian Knoth (10:50)
Genau. Durch digitale Medien stehst du heute viel schneller im Fokus, wenn etwas passiert. Unglücke wie Rana Plaza in Bangladesch mit über 1.000 Toten haben die Branche wachgerüttelt. Es ging plötzlich nicht mehr nur um den Preis. Heute achten wir darauf, dass unsere Lieferanten keine Kinderarbeit dulden, faire Löhne zahlen und nachhaltige Standards einhalten. Schwarze Schafe gibt es immer, aber wir arbeiten nur noch mit Lieferanten zusammen, die BSCI- oder vergleichbare Standards erfüllen.
Fabian Heinrich (11:25)
Verstehe.
Fabian Knoth (11:50)
Wir haben z. B. CDI-Verträge eingeführt, die sich an unserem Code of Conduct und an Öko-Zertifikaten orientieren. Diese Herausforderungen waren vor zehn Jahren noch kaum Thema, aber heute – mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LKSG) – sind sie fester Bestandteil des Einkaufs.
Fabian Heinrich (12:29)
Also LKSG war ein Auslöser, aber ihr wart schon vorher auf dem Weg, nachhaltiger zu arbeiten.
Fabian Knoth (13:04)
Ja, ganz klar. Es geht nicht mehr nur ums Produkt, sondern um die Rahmenbedingungen: Nachhaltigkeit, Qualität, Partnerschaft.
Fabian Heinrich (13:06)
Also ein Wandel von Verfügbarkeit und Preis hin zu Nachhaltigkeit und Qualität.
Fabian Knoth (13:29)
Ganz genau. Und das passt auch zu unserem Unternehmen – einem Familienunternehmen mit einem Sortiment für die ganze Familie, von Baby bis Heimtextilien. Da muss auch die Qualität stimmen.
Fabian Heinrich (14:05)
Ja, das ist absolut richtig. Wenn man sich anschaut, wie ihr im Einkauf arbeitet – bei all den Herausforderungen und der Komplexität – stellt sich immer die Frage: Baue ich ein großes Team auf oder löse ich das Ganze mit digitalen Tools? Wie handhabt ihr das?
Fabian Knoth (14:29)
Wir haben versucht, das Wissen auf mehrere Köpfe zu verteilen – auf Menschen, die schon lange im Unternehmen sind und die Ansprechpartner auf der anderen Seite seit Jahren oder Jahrzehnten kennen.
Fabian Heinrich (14:40)
Mhm.
Fabian Knoth (14:44)
Anfangs haben wir das Ganze mit Excel-Tabellen unterstützt, was natürlich schwer zu pflegen ist, fehleranfällig, mit unterschiedlichen Standards und Wissensständen. Das war nicht mehr zeitgemäß. Also haben wir nach einer digitalen Lösung gesucht, wie wir das Thema besser aufbereiten können.
Ein wichtiger Baustein war hier das Thema LKSG – das wollten wir digital abbilden, auch wenn es nur ein kleiner Teil des Portfolios ist. Aber es sind eben relevante Themen, bei denen man vielleicht (noch) nicht alles 100 % konform umsetzen kann. Trotzdem will man dort als wichtiger Partner wahrgenommen werden. Also haben wir vor etwa drei Jahren begonnen, nach einem passenden Partner zu suchen.
Fabian Heinrich (16:03)
Es erinnert ein wenig an die Zeit vor 10–15 Jahren im Vertrieb, als man merkte: Ein zentrales CRM wäre sinnvoll, um Leads und Kunden zu verwalten. Und dann kamen Key Account Management, Salesforce etc. Aber im Einkauf gibt’s sowas noch nicht so stark, obwohl die Herausforderungen ähnlich sind – nur auf der Lieferantenseite. Man braucht ein System, um Partnerschaften zu pflegen, Gespräche zu dokumentieren, Bewertungen zu tracken. Ich würde es fast als "Supplier Account Management Suite" bezeichnen.
Fabian Knoth (17:06)
Ja, genau. Du hast dann z. B. in der Systube (Software) die Möglichkeit, dich auf ein Gespräch vorzubereiten. Du hast deine Risikobewertung vielleicht vor einem halben Jahr gemacht, schaust jetzt, welche Lieferanten du besuchst, wer aktiv ist, gehst die Liste durch, siehst die letzte Bewertung und kannst aktualisieren: Was lief gut, was schlecht, was sind meine Gesprächspunkte?
Du musst keinen zusätzlichen Katalog mitnehmen oder ein Notizbuch kaufen – du hast alles digital in der Hosentasche. Du kannst das Gespräch gemeinsam mit dem Lieferanten führen, Aufgaben definieren, Deadlines setzen, Anfragen erneut senden. Und ein großer Vorteil ist: Wenn ein Lieferant mit vier oder fünf Einkäufern zusammenarbeitet, haben alle denselben Informationsstand, weil alles aktuell und zentral dokumentiert ist.
Fabian Heinrich (18:20)
Ich merke, bei euch hat sich in den letzten fünf Jahren extrem viel getan. Viele Entwicklungen, viele Herausforderungen, insbesondere seit 2020 mit Covid. Wenn du jetzt mal fünf Jahre in die Zukunft blickst – welche Veränderungen oder Herausforderungen siehst du für den Einkauf?
Fabian Knoth (18:45)
Da gibt’s zwei große Themen. Das eine ist die Entwicklung rund um Türkei und Griechenland: Wie wird sich das aufstellen? Wird sich die Region weiter öffnen oder eher abschotten?
Fabian Heinrich (19:00)
Gerade weil die Textilindustrie dort ja stark vertreten ist.
Fabian Knoth (19:07)
Ja, das ist für uns immer noch ein sehr starker Produktionsmarkt. Du hast keine langen Transportwege, Produktionszeiten von vier bis sechs Wochen – ähnlich wie in Bangladesch – aber der Versand dauert nur sieben bis zehn Tage. Bestellst du in Fernost, brauchst du allein für den Transport 60 bis 90 Tage. Das kannst du kaum noch einkalkulieren. Du kannst zwar wie Temu oder Shein mit dem Flugzeug liefern, aber wir operieren auf einem ganz anderen Level – mit anderen Mengen und Herausforderungen. Deshalb beobachten wir die Entwicklungen sehr genau. Es gibt auch eine Verlagerung Richtung Osten – nach Usbekistan oder Bulgarien – während die Hauptbüros oft in Istanbul oder Thessaloniki bleiben.
Auf der anderen Seite muss man sehen, was in Vietnam, China und Bangladesch passiert: Wie groß ist noch der amerikanische Einfluss? Vietnam war stark vom US-Markt abhängig. Jetzt wird man sehen, was dort passiert, wie sich die Löhne entwickeln.
Ein riesiger Fortschritt wäre natürlich, wenn sich die Route durchs Rote Meer wieder stabilisiert – das spart Zeit und Geld. Und dann ist da noch das Thema Rohstoffe: Früher musste man in Asien 10.000 Stück pro Bestellung abnehmen. Heute sind auch kleinere Mengen möglich. In fünf Jahren wird sich zeigen, welche Lieferanten sich halten können, wie stark die Nachfrage noch ist – denn auch in Deutschland gehen die Stückzahlen im Textilbereich zurück. Das hat Auswirkungen auf den gesamten Markt.
Fabian Heinrich (21:40)
Ja, da steckt eine Menge drin. Geopolitik spielt also eine große Rolle – Türkei und Griechenland als strategischer Markt mit kurzen Lieferzeiten und Zyklen. Und auf globaler Ebene: Wie geht’s weiter mit China, den USA, Bangladesch?
Ein zweites großes Thema ist der Transport: Welche Routen entwickeln sich? Was passiert mit Zöllen, Handelswegen? Und auf der technologischen Ebene – Stichwort KI: Gibt es da Potenzial für den Einkauf?
Fabian Knoth (23:00)
Da sind wir schon aktiv. Wir arbeiten viel mit Datenanalyse und schauen, wie wir z. B. mit KI unsere Planung verbessern können – z. B. Rahmenplanungen für Kollektionen oder Limit-Kontrollen. Mit 250 Filialen ist das Thema Warenbestandssteuerung enorm wichtig. Da brauchen wir KI-gestützte Systeme, um präziser zu werden.
Im Produktmanagement würden wir uns freuen, künftig mit Tools wie Clo 3D zu arbeiten – also digitale Designhilfen. Damit könnten wir z. B. Muster, Prototypen oder Fotopatterns vermeiden. Aktuell müssen diese physisch hin und her geschickt werden – von Bangladesch nach Deutschland und zurück. Farbproben ("Lab Dips") vielleicht bald nicht mehr per Paket, sondern digital – wenn die Technologie das realistisch genug darstellen kann. Momentan wirken die Darstellungen noch etwas zu künstlich, aber die Entwicklung ist spannend.
Wir sehen: Es tut sich etwas – und wir haben angefangen. Aber da liegt noch Arbeit vor uns.
Fabian Heinrich (25:14)
Ich finde, das ist ein schönes Schlusswort. Der enge Austausch mit Lieferanten ist der Schlüssel. Damit kann man auch geopolitische Krisen oder sogenannte „Black Swan“-Ereignisse besser abfedern. Und wie du gesagt hast: Technologien, Automatisierung, neue Designmöglichkeiten, Order-Optimierung – all das bringt noch Potenzial mit sich.
Gerade für unsere Zuhörer war das sicher sehr spannend: Einblicke in die Textilbranche, wie dort gearbeitet wird, welche Herausforderungen bestehen, was sich verändert hat. Vielen Dank, Fabian, dass du da warst. Ich habe mich sehr gefreut.
Fabian Knoth (26:28)
Vielen Dank dir. Es war ein spannender Austausch. Ich würde mich freuen, wenn wir das nochmal zu einem anderen Thema wiederholen. Und allen Zuhörern: Viel Spaß beim Zuhören und beim weiteren Austausch.
Fabian Heinrich (26:49)
Wenn du noch einen Moment hast, bleiben wir gleich nach der Aufnahme noch kurz dran.
Fabian Knoth (26:57)
Ja, klar.